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Für Mathew, Oliver, Cruz, Mikaela, Bettyanne, Geoffrey, Justine, Jason, Ben Charlotte, Lily und Tante Ronda ... Ihr seid alles für mich.

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HEEL Verlag GmbH

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Deutsche Ausgabe:

© 2017 HEEL Verlag GmbH

Plaza ist ein Imprint der HEEL Verlag GmbH

Originalausgabe:

© New Holland Publishers Pty Ltd, 2017

Originaltitel: Embrace: My Story from Body Loather to Body Lover Original-ISBN 978-1-74257-618-3

Text: Taryn Brumfitt

Design: Thomas Casey

Lektorat: Joanne Rippin

Korrektorat: Angela Sutherland

Deutsche Ausgabe:

Übersetzung: Tamara Anders, Köln (Vorwort: Claudia Buchholtz, Rackwitz)

Fotos: Andre Agnew, Kate Ellis, Benjamin Liew, Karen Pfieffer, David Solm, Bella Lieberberg, ETC Film Holdings PTY Ltd.

Coverdesign: Majestic Filmverleih GmbH

Satz: Axel Mertens, HEEL Verlag GmbH

Lektorat: Laura Wika von Czarnowski, Ulrike Reihn-Hamburger

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks, der Wiedergabe in jeder Form und der Übersetzung in andere Sprachen, behält sich der Herausgeber vor. Es ist ohne schriftliche Genehmigung des Verlages nicht erlaubt, das Buch und Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer bzw. mechanischer Systeme zu speichern, systematisch auszuwerten oder zu verbreiten.

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-95843-603-9

eISBN 978-3-95843-604-6

Inhalt

Vorwort

Von Ricki Lake

Für jemanden, der jahrelang mit der eigenen Körperwahrnehmung zu kämpfen hatte und dabei auch noch von den Medien beobachtet und beurteilt wurde, ist es geradezu eine Erleuchtung zu sehen, dass jemand wie Taryn Stellung bezieht gegen die Art und Weise, wie die Gesellschaft Frauen mit der Forderung nach einer bestimmten Idealfigur unter Druck setzt.

Dann und wann habe ich mir gewünscht, ich wäre in einen anderen Körper hineingeboren worden und hätte nicht so mit meinem Gewicht zu kämpfen, oder mein Aussehen hätte nicht solch einen negativen Effekt auf mein Selbstvertrauen, aber seien wir mal ehrlich: Den großen Durchbruch hätte es so nicht für mich gegeben, wäre ich damals in Größe 34 herumgelaufen. Ich denke, es ist vor allem wichtig, glücklich zu sein mit dem, was man hat – wir sind alle auf unsere Weise einzigartig, etwas Besonderes und schön.

Gegenüber meinem Körper empfand ich eine sehr komplexe Hassliebe und diese verschärfte sich zusätzlich, als Regisseur John Waters mich als „das dicke Mädchen“ in seinem Film Hairspray besetzt hat. Ich fühlte mich wie ein wandelnder Widerspruch – einerseits wurde ich berühmt und alle mochten die Art dieses hinreißenden pummeligen Mädchens, andererseits kämpfte ich tief im Innern damit, zu mir selbst zu finden und mich wohlzufühlen in meiner Haut. Mir ist, als hätte ich einen Großteil meines Erwachsenendaseins mit diesem inneren Konflikt zugebracht, auf der Suche nach meiner natürlichen Figur: Ich – das waren 54 Kilo und das waren 118 Kilo, das reichte von Größe 34 bis Größe 54, von XS bis XXL.

Ich würde es den Frauen der nächsten Generation gönnen, sich weniger abmühen zu müssen, als ich es tat. Es wäre großartig, würden wir endlich durchschnittliche Frauen in Zeitschriften und im Fernsehen zeigen, und Frauen mit allen möglichen Körperformen und Kleidergrößen würdigen. Ich habe Söhne, keine Töchter, aber selbst bei meinen Söhnen schmerzt es mich, wenn ich daran denke, was ich an sie weitergebe – wenn sie hören, wie ich mich über mein Gewicht beklage, während wir zusammen sind – das ist eine so ungesunde, fast unfreiwillige Angewohnheit. Was wir in unsere Körper investieren und wie wir auf uns achtgeben, all das ist so verkorkst – sich dem zu stellen ist sehr wichtig.

Deshalb finde ich es toll, was Taryn mit ihrem Buch und ihrem Dokumentarfilm bewirkt. Wie viele andere Frauen in dieser imagebewussten modernen Welt hatte sie Mühe, vom Hass auf den eigenen Körper loszukommen und von dem, was dieser Hass bewirkt. Und nun ermutigt sie Frauen, sich endlich nicht mehr ständig und wie besessen um die Größe der eigenen Brust oder des Bauchs zu sorgen, sondern einfach rauszugehen und das Leben zu genießen.

Das klingt einfach, aber natürlich ist es das nicht, es ist ein Prozess. Ich wünschte, ich wäre eine jener Frauen, die das einfach so überwinden konnten – tatsächlich jedoch war es wirklich mühsam. Aber über die Tatsache, dass ich so viele Tage meines Lebens an das Gefühl verloren habe, mit meinem Körper hadern zu müssen – darüber ärgere ich mich. Und wenn wir uns einig sind, dass wir jetzt genug haben und uns die Macht über unser Selbstbild zurückholen, die wir den Medien zugestanden haben, dann ist der Anfang vielleicht gemacht. In meinen Augen sind Projekte wie das Body Image Movement von Taryn Brumfitt der richtige Weg, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen – es muss von unten beginnen, nicht anders herum.

Wenn man Taryns Buch liest, dann ist es, als ob man eine neue beste Freundin findet. Ihre warmherzige Persönlichkeit schimmert durch alles, was sie schreibt, hindurch – seien es die zum Schreien komischen körperlichen Kalamitäten, die demütigenden Peinlichkeiten, die keinem von uns fremd sein dürften, oder ihre leidenschaftlichen Attacken gegen die Diätindustrie, die uns pausenlos nach Strich und Faden abzockt. Ich empfehle dieses Buch allen Frauen, egal mit welcher Figur oder Konfektionsgröße, und ich lege allen Frauen dringend nahe: Reichen Sie es weiter an Ihre Töchter, Nichten, Patentöchter … und Söhne!

ÜBER RICKI LAKE

Ricki Lake ist eine US-amerikanische Schauspielerin und Talkshow-Moderatorin. Bekannt wurde sie durch ihre Hauptrolle im Film Hairspray (1988), in dem sie Tracy Turnblad, einen übergewichtigen Teenager, spielt. Von ihren persönlichen Problemen mit dem eigenen Körperbild berichtet Lake im Embrace-Dokumentarfilm.

Kapitel 1

Rampenlicht und Pornoschuhe

„Habe ich einen Cameltoe? Oh mein Gott! Hi, ich bin Taryn, habe ich einen Cameltoe?” Scheiße, gleich rufen sie mich auf und ich glaube, ich habe mein Bikinihöschen so weit hochgezogen, dass sich meine Schamlippen unter dem Höschen abzeichnen. Ich gebe zu, dass ich die Hosen oft zu weit hochziehe und normalerweise komme ich damit durch, indem ich einen großen Schlabberpulli darüber trage. Jetzt aber gibt es keine Chance, von einem zu weit hochgezogenen Bikinihöschen abzulenken. Endlich finde ich ein Mädel, das die Zähne auseinanderkriegt und mich zur Antwort nicht nur verständnislos anglotzt wie die ersten beiden. „Äh, ich kann nichts erkennen, es ist ein bisschen dunkel hier.” Na, das hilft.

Das Nächste, was ich höre, ist: „Bitte begrüßen Sie Taryn Brumfitt auf der Bühne.“ Die reden von mir! Madonna läuft, also ist definitiv mein Auftritt dran. Hier bin ich. Oh, diese Scheinwerfer blenden. Ich kann den silbernen Haarschopf meines Vaters im Publikum sehen. „Hi, Dad“, sage ich in meinem Kopf (nervöses Kichern). Die Bühne ist hell, der Zuschauerraum ist dunkel, aber ich kann eine Menge Gesichter erkennen. Über 700 Leute schauen mir zu, wie ich in einem winzigen silbernen Bikini und Pornoschuhen über eine Bühne stakse. Ein Fitness-Model, das gegen 20 andere Mädels in einem Wettbewerb eines der angesehensten australischen Bodybuilding-Verbände antritt.

Wie bin ich hierhergekommen? Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Lächerlich! Ich wünschte, das Publikum würde meine Geschichte kennen. Wäre es wohl unangebracht, wenn ich den Typen mit dem Mikrofon um etwas Redezeit bitte? Wahrscheinlich sehr unangebracht – okay, also nur lächeln. Innerlich lache ich. Ich lache so laut, dass es beinahe das Gefühl schierer ­Panik übertönt, die mich ­befällt, weil ich a) vor einer Menge Leute auf einer Bühne stehe und b) im Bikini vor einer Menge Leute auf einer Bühne stehe! Ich stakse über die Bühne und kann nur denken: „Bitte nicht vor Publikum in einem Bikini und Pornoschuhen hinfallen.“ Meine Beine zittern, mein Atem geht flach. Ich schaffe es bis zur anderen Seite der Bühne. Nehmt das, ihr Punktrichter, die ihr eure überkritischen Blicke in meine Seele bohrt! Ich bin nicht hingefallen, das verdient doch ein Lächeln oder eine kleine Aufmunterung? Keine Chance. Dann erinnere ich mich, dass ich hier nicht danach beurteilt werde, wie gut ich in diesen absurd hässlichen Schuhen laufen kann, oder nach meiner Persönlichkeit oder meiner Begabung – hier wird mein Körper beurteilt.

Als ich mich dem Moderator nähere, wird der Drang stärker, mir das Mikrofon zu schnappen. Innerlich bin ich überzeugt, in diesem Moment eine Rede über Körperliebe und Akzeptanz halten zu können, die mit jedem Motivationsredner mithalten könnte. Taryn, verdammt nochmal, komm runter, vergiss das Mikro, du bist nicht hier, damit die Leute dir zuhören, du bist hier, damit sie dich anschauen. Autsch, die Feministin in mir kriegt ganz gut was ab.

Ich erinnere mich für einen Moment an die Gründe, warum ich hier bin. Dies ist ein gesellschaftliches Experiment, das vor 15 Wochen begann, als ich gegenüber meiner Personal Trainerin Ruth eine folgenschwere Bemerkung machte: „Ich frage mich, wie es sich wohl anfühlt, einen perfekten Körper zu haben.“

Ich hatte Ruth natürlich im Fitness-Studio kennengelernt, sie leitete den Box-Kurs am Samstag und sie war gnadenlos. Ich mochte ihre Art und ihre Stärke, sie nahm die Sache ernst und für mich, die ich gerne hart arbeite und meine innere Demi Moore aus dem Film G.I Jane raushängen lasse, war sie das perfekte Gegenstück.

Boxen war schon immer mein Lieblingssport. Als wir in der Schule ein Praktikum machen mussten, entschied ich mich, boxen zu lernen. Im zarten Alter von 15 Jahren dachte ich, es sei eine richtig gute Idee, in die Fußstapfen Rocky Balboas zu treten. Ich erinnere mich, dass der Beratungslehrer mich in eine andere Richtung lenken wollte und ich weiß ganz genau, dass ich ihn fragte, warum er es nicht für ein ausreichend ehrgeiziges Ziel hielte, ein Wettkampfsportler zu sein. Ich weiß auch noch, dass ich fragte, ob sein Widerstand gegen meine Praktikumsidee damit zu tun hätte, dass ich ein Mädchen sei. Das hatte es sicher nicht, ich war nur eine ätzende Besserwisserin und wollte Grenzen ausloten, denn darum geht es, wenn man als ١٥-jähriger Frechdachs morgens rohe Eier zum Frühstück schlürft.

Ruth stellte einen knallharten Trainingsplan für mich auf. Ich hatte ziemlich genau 15 Wochen zwischen dem Trainingsbeginn und dem Tag, an dem ich auf der Bühne auftreten sollte. Einen Tag nach dem Australia Day, dem National­feiertag, ging es los. Ich kann mich genau erinnern, weil ich während der gesamten Trainingseinheit gegen Würgereiz ankämpfen musste. Da der Australia Day für die nächsten vier Monate der letzte Tag war, an dem ich nach Herzenslust essen und trinken konnte, hatte ich das gemacht, was jeder Australier getan hätte: Ich war zum Cricket-Länderspiel gegangen und hatte richtig die Sau rausgelassen.

Bei Cricket-Länderspielen in Australien schaut man nicht wirklich konzentriert dem Spiel zu. Man trinkt eine Menge, spritzt sich gegenseitig mit Wasser nass wie die Kinder, setzt sich verrückte Kopfbedeckungen auf und singt laut und viel ­„Aussie, Aussie, Aussie, Oi, Oi, Oi“. Es ist ein Ort zum Feiern, außer natürlich, man sitzt in der Club-Lounge, wo man stattdessen kühlen Sauvignon Blanc schlürft, affige Kanapees kaut und wichtiger tut, als man wirklich ist. ­Hühnersuppe soll ja gut für die Seele sein; ich behaupte, ein Tag beim Cricket ist sogar noch besser. Eins ist allerdings ziemlich sicher: Am Vortag einer „Zeig-was-du-draufhast“-­Trainingseinheit zum Cricket zu gehen, ist bestenfalls eine katastrophale Fehlentscheidung.

Ich schaffte es (so gerade eben) durch Tag eins meines Trainingsprogramms und dachte damals, es sei eine harte Einheit gewesen. Da wusste ich noch nicht, dass die nächsten 100 mindestens genauso hart, wenn nicht noch härter sein würden. Sechs Tage die Woche stand ich um 05.30 Uhr auf und lief, hob Gewichte, fuhr Rad, machte Squat-Sprünge, boxte, kickte, schwitzte und verausgabte mich oft genug buchstäblich bis zum Übergeben. Nach der Hälfte der Zeit ging ich von einer auf zwei Trainingseinheiten am Tag über. Das bedeutete: Zu Beginn des ­Tages Ausdauertraining auf leeren Magen und später am Abend dann Training an den Gewichten – zwischen dem Abendessen der Kinder um 17.00 Uhr und der Zubettgehzeit um 19.00 Uhr. (Ich sage zwar Zubettgehzeit der Kinder, aber meistens war ich abends so kaputt, dass ich mich gleich selbst ins Bett hätte bringen können.)

Ich musste so hart für meine Bikinifigur trainieren, weil die Zeit dafür so knapp war. Die meisten Teilnehmerinnen trainierten mindestens neun bis zwölf Monate bis zum Wettbewerb. Mein Motto war „schnell und hart“ und Ruth hörte nicht auf mir zu sagen, ich müsse alles geben, weil ich starke Konkurrenz haben würde. Um ehrlich zu sein, hatte ich nie das Gefühl, gegen die anderen Mädels anzutreten – mein Ziel war es bloß, mich gut einzufügen und nicht unangenehm aufzufallen.

Eine dieser Trainingseinheiten werde ich nie vergessen. Es war die Woche des Wettkampfs und ich hatte die Anweisung bekommen, mir etwas „Carb-loading“ zu gönnen. Ausdauerathleten nehmen bei dieser Strategie Kohlenhydrate zu sich, um eine maximale Menge Glykogen (Energie) in den Muskeln zu speichern. Bei einem Fitness-Wettkampf dient das Carb-loading im Grunde dazu, die Muskeln größer aussehen zu lassen und dazu noch die lose Haut am Bauch etwas zu spannen. Zunächst aber musste ich alle Kohlenhydrate loswerden: Drei Tage lang gab es nur Hühnchen und Brokkoli und am Donnerstag ging ich dann ins Studio und trainierte fast vier Stunden lang. Das Ziel war, das gesamte Glykogen aus den Muskeln zu verbrauchen und dann 48 Stunden vor meinem großen Bühnendebüt einen ordentlichen Vorrat davon zu bunkern.

Ruth kam an, als ich bereits zwei Stunden auf dem Laufband war, ich triefte vor Schweiß und war erschöpft. Ich war beinahe einen Halbmarathon gelaufen und fühlte mich, als sei nichts mehr im Tank, aber natürlich war da noch was und sie holte es aus mir raus. Nachdem ich mich kurz umgezogen hatte, gingen wir in den Gewichteraum und es gab noch einmal zwei Stunden Schinderei mit Zirkeltraining. Danach konnte ich mich kaum noch bewegen, ich war nicht gebrochen oder verheult wie Demi Moore, aber ich konnte bestimmt keinen vernünftigen Satz mehr reden und besonders gut gehen konnte ich auch nicht mehr.

Nach dem körperlichen Training musste ich jetzt noch optisch verschönert werden. Für jemanden, der sonst nicht oft Make-up trägt und keine Chemie an sich heranlässt (weder an die Haut noch ans Essen), bekam ich nun die volle Dröhnung: Haare, Make-up, Bräunungsspray, Nägel, noch einmal Bräunungsspray und eine Menge Enthaarung. Es fühlte sich so an, als sollte ich noch einmal heiraten. Die Bräunungsspray-Behandlung war ein Nervenkitzel. Gott sei Dank war die Kosmetikerin eine herzensgute und freundliche Frau, denn mit nacktem Hintern dazustehen, während jemand vor einem kniet und einem die Innenseite des Oberschenkels einsprüht, ist nichts für schwache Nerven! Als ich nach meiner Bräunung nach Hause kam, erkannte mich mein Mann Mat nicht mehr wieder und als er es schließlich doch tat, lachte er und wurde fast hysterisch. Ich sah wirklich bizarr aus, meine Tic-Tac-artigen Zähne strahlten hell im Kontrast zu meiner mahagonifarbenen Haut.

Als ich am Abend des Wettkampfs im Backstage-Bereich ankam, war ich unglaublich nervös. Viele Mädels kannten sich offensichtlich und gehörten scheinbar zu einer Gruppe, und ich bemerkte sofort, dass ich mit Abstand die Älteste war. Diese Mädchen waren echt jung! Ich schätzte, dass ich etwa zehn Jahre älter war als die Älteste von ihnen.

Backstage gab es einen großen offenen Raum, wo sich Jungs und Mädels unbefangen umzogen, einölten und zurechtmachten. Dahinter war ein kleinerer Raum. Ich steuerte direkt darauf zu, denn ich war viel zu nervös, um vor hundert fremden Menschen meine Klamotten abzulegen und mich fertig zu machen. Als ich die Tür zu diesem kleinen Raum öffnete, befanden sich schon etwa ein Dutzend Mädchen darin. Ich sagte meinen Namen, verlieh ausführlich meinen persönlichen Gefühlen Ausdruck, lud mein Zeug ab und fing an, mich auszuziehen. Als ich, nachdem ich meine Trainingshose heruntergezogen hatte, aufsah, bemerkte ich, dass sie mich anstarrten, und zwar nicht unbedingt freundlichen Blickes. Jemand, der sich später als der Trainer der Mädchen herausstellte, sagte zu mir mit herrischer Stimme: „Das ist unser privater Raum, wo wir uns vorbereiten, und wir möchten uns gern in RUHE vorbereiten.“ Ich spürte ein Kribbeln in der Magengrube, ähnlich dem, das ich regelmäßig an der Highschool fühlte, wenn ich gemobbt wurde (eine andere Geschichte für ein anderes Kapitel). Ich war gekränkt und beschämt und ging damit um, wie ich es gewöhnlich tue, mit ein wenig Humor und zu viel Reden. Ernsthaft, immer wenn irgendein unangenehmer Mist passiert und ich in der Nähe bin, kriege ich mit Sicherheit verbalen Durchfall. „Oh, meine Damen, wie peinlich ist das denn?!“ (Hier das Geräusch zirpender Grillen einfügen.) „Mein erster Wettkampf, ich kenne kaum jemanden, und dann lande ich im falschen Raum. Bei euch.“ (Nervöses Lachen.) „Na, ich denke, da hinter der Türe ist sicher noch ein Plätzchen nur für mich, das werde ich schon finden, nicht wahr, und zwar …“ (Sie starren immer noch.) „… jetzt.“ Oh je, diese Mädels waren eine harte Truppe. Ich merkte, dass meine Trainingshose immer noch auf Knöchelhöhe hing. (Wieso hatte ich Turnschuhe angezogen und nicht Schlappen wie alle anderen?) Ich zog die Hose hoch, schnappte meine Sachen und ergriff die Flucht.

Überall herrschte Gedränge, also bezog ich mitten in einem Gang meine Stellung. Ich schaute mich um, Frauen machten Übungen mit Gymnastikbändern, Haarspray wurde gesprüht, Glanzlack aufgetragen – es wird ernst, meine Liebe.

Ich ging auf die Toilette, zog meinen Bikini an und mein Sportshirt wieder über das Oberteil. Ruth sah mich und fragte: „Wieso trägst du dieses Shirt?“ Und ich antworte: „Ich will nicht vor allen im Bikini rumlaufen.“ Ruth schaute mich total perplex an. „Taryn, du gehst gleich vor ein paar hundert Leuten auf die Bühne, zieh dieses Shirt aus.“ Ich fühlte mich total bloßgestellt und genau in diesem Moment traf mich die Enormität dessen, was ich gerade im Begriff war zu tun. Ich fühlte, wie mich eine Welle an Übelkeit überflutete, aber bevor ich Zustände kriegen konnte, war es Zeit, nach oben zu gehen und hinter der Bühne darauf zu warten, dass ich aufgerufen wurde. Also zerrte ich mein Bikiniunterteil so weit nach oben wie ich konnte und zog los.

Und jetzt stehe ich hier auf der Bühne, äußerlich lächelnd und innerlich über die Ungeheuerlichkeit lachend, dass ich, Taryn Brumfitt, auf einer Bühne in Pornoschuhen und Bikini herumstehe, womöglich mit einem Cameltoe (das werden wir wohl nie sicher erfahren). Wie ist es möglich, dass ich noch vor kurzer Zeit auf dem Badezimmerboden gelegen habe, mir die Augen ausheulte und jeden Zentimeter meines Körpers hasste? Wie bin ich hierhergekommen? Nun, das ist eine lange Geschichte und sie begann sieben Jahre zuvor, als ich in einem Krankenhaus auf einem Badewannenstuhl saß ...

Kapitel 2

Der Badewannenstuhl

„Oh mein Gott, es kommt wieder eine”, schreie ich über die Küchenzeile gekrümmt. Ich blicke auf und sehe, wie acht Handwerker mich durch die Glaswand des Anbaus anstarren, den wir gerade hinter dem Haus errichten. Kaum, dass unsere Blicke sich treffen, wenden sie sich sofort ab und hämmern, bohren und schleifen weiter. Wir wollten mit dem Umbau fertig sein, bevor das Baby kommt, aber wir sind einige Wochen im Verzug.

Als die Wehe vorbei ist, nutze ich die Gelegenheit und stecke den Kopf für ein freundliches Geplänkel mit den Jungs nach draußen und mache einige vorhersehbare und unlustige Witze, dass sie sich etwas beeilen müssten, weil das Baby gleich da ist. Im nächsten Moment zeigt mir die nächste Wehe, dass jetzt nicht die Zeit für blöde Witze ist und wir stattdessen lieber ins Krankenhaus fahren sollten.

Bei der Ankunft im Krankenhaus reiche ich der Hebamme schwungvoll meinen Geburtsplan. Es ist jetzt wichtig, dass sie und ihr Team meine wohlüberlegten Vorstellungen vom weiteren Tagesverlauf erfassen und verstehen, wie sie während der Wehen mit mir kommunizieren sollen. Erst vor wenigen Monaten haben Mat und ich eine erhebliche Summe für die Teilnahme an einem Hypnobirthing-Workshop ausgegeben und wir sind entschlossen, den gerechten Gegenwert dieser Investition in Form einer ruhigen, friedlichen und entspannten Geburt durch die korrekte Anwendung unserer im Workshop erworbenen Fähigkeiten zu erhalten.

Acht Stunden später sind alle Gedanken an Ruhe, Heiterkeit und Harmonie über Bord geworfen. Statt Entspannungsmusik läuft die amerikanische Talkshow Dr. Phil im Fernsehen. Ich hänge im Bad, die nassen Haare kleben mir im Gesicht und ich kreische wie eine Furie. Wieso läuft Dr. Phil überhaupt? Er gehört nicht zum Plan und hat auch mit Hypnobirth nichts zu tun, aber ich finde kaum die Kraft, Mat zu sagen, dass er den Fernseher ausschalten soll.

Bis hierhin habe ich acht Stunden Wehen ohne Schmerzmittel durchgemacht. Als der Bereitschaftsarzt der Geburtshilfeabteilung den Muttermund untersucht, sagt er mir, er sei drei Zentimeter weit geöffnet. Klar, dass ich ziemlich entsetzt bin. „WAS ZUM VERDAMMTEN HYPNOBIRTH REDEN SIE DA?”, schreie ich – nur in meinem Kopf. Acht Stunden für drei cm? Soll das ein Witz sein? Ich hänge bereits in den Seilen und dann kommt wie beim Boxen der K.o.-Schlag. „Sie wird eine Epiduralanästhesie brauchen“, sagt der Kerl zu der Krankenschwester vor mir und geht raus.

Nein, nein, NEIN! So war das nicht geplant. Was passiert hier, Leute? Das habe ich mir anders vorgestellt. Ich habe entsetzliche Schmerzen, ich bin so enttäuscht, dass ich nicht so stark bin, wie ich dachte, und ich werde in eine Schmerzmittel-Behandlung gedrängt, die ich ursprünglich nicht wollte. Ich hasse Nadeln und gleich kriege ich eine in meine Wirbelsäule gestochen. Ich gebe mich geschlagen und schluchze in Mats Schulter.

Eine Stunde später bin ich im Paradies der Epiduralanästhesie und frage mich, wieso jemand eine natürliche Geburt will, wenn man doch das goldene Epidural­ticket haben kann. (Ob ich wohl die Hypnobirth-Kursgebühr zurückfordern kann? Fraglich.) Es gibt natürlich auch Nachteile bei der Epiduralanästhesie und dazu gehört, dass man die Wehen nicht spürt und deshalb alles sehr viel langsamer erscheint. Nach weiteren acht Stunden Wehen unter Betäubung habe ich mir angewöhnt, automatisch den Rufknopf zu drücken, sobald ich bei einer Kontraktion wieder mehr Schmerzen spüre, um mir nachschenken zu lassen.

Gott sei Dank hat die Hebamme, der ich meinen Geburtsplan gab, längst Feierabend. Im Bett sitzen, fernsehen und alle Nase lang die Ruftaste drücken, um Betäubungsmittel zu bekommen, ist doch ein ziemlicher Kontrast zum ursprünglichen „keine Medikamente, Peace, Love und Mantra-singen“-Ansatz. Ich bin sicher, das Personal hier hat schon unzählige Erstgebärende mit rosigen Vorstellungen und sorgfältigen Vorbereitungen für die perfekte Geburt erlebt. Immerhin hat die Hebamme nicht die Augen verdreht, als ich ihr ein Exemplar der drei Kopien gab, die ich für diese ganzheitliche Gruppenerfahrung an das Team verteilt habe.

Dank der magischen Epiduralanästhesie drückte und presste ich noch weitere dreieinhalb Stunden lang, bis endlich um 22.36 Uhr am 4. Juli, Oliver ­Jason Geoffrey Brumfitt geboren wurde. Mats Reaktion darauf, Oliver auf die Welt kommen zu sehen, war unbezahlbar. Er weinte und rief immer wieder: „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ Der Geburtshelfer sagte mir später, er hätte noch nie eine so überwältigte und lebhafte Reaktion eines Vaters gesehen. Ich hatte Mat nur sehr selten weinen gesehen. Er lässt sich nur ungern in die Karten schauen, aber dieser Moment war so, als sprudelten alle freudigen und schönen Erfahrungen seines ganzen Lebens auf einmal aus ihm hervor. Mat so verletzlich und mit Freude erfüllt zu sehen, machte diesen Moment noch schöner für mich.

In meinen Armen lag Oliver, mein Schatz – winzige Fingernägel, nasses tintenschwarzes Haar und in jeder Hinsicht vollkommen. Was für ein surrealer Moment. Ich war Mutter. Als ich meine Eltern mit der Neuigkeit anrief, eilten sie ins Krankenhaus, um ihren wunderschönen Enkel zu sehen. Als sie ihn in den Armen hielten, dachte ich, dass ich sie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr so glücklich gesehen hatte. Mit Tränen in den Augen stellte ich ihnen Oliver vor und platzte fast vor Stolz und Aufregung, als ich seinen zweiten Vornamen verkündete: Jason.

Jason war mein Bruder, er war fünf Jahre zuvor plötzlich verstorben. Ich wusste, dass ein neues Leben in unserer Familie helfen würde, den Schmerz einer lebenslänglich auferlegten Trauer zu lindern. Von dem Moment, da ich Oliver hielt, wusste ich, dass ich bereit war, für ihn zu sterben. Erst jetzt verstand ich die unumkehrbare Traurigkeit meiner Mutter. Egal, was geschieht oder gesagt wird oder welche Freude sie auch immer in ihrem weiteren Leben erfahren wird, es wird nie eine reine Freude sein können. Ihr Leben wird immer behaftet sein, immer, genauso wie das meines Vaters. Erst als ich Oliver im Arm hielt, verstand ich die Maßlosigkeit von Liebe und Verlust. Es ist eine Liebe, die ich noch nie zuvor empfunden hatte, Worte können sie nicht ausdrücken.

Es war fast Mitternacht und ich war völlig fertig. Mum und Dad waren gegangen und ich stopfte mich mit etwa 20 Krankenhaussandwiches voll. (Ich habe eine seltsame Vorliebe für Krankenhaussandwiches, Flugzeugbrötchen und Krebsfleischimitat – tragisch, ich weiß!) Es war Zeit, meine enormen Brüste und genauso gigantischen Brustwarzen auf die Probe zu stellen. Oliver sollte ans Stillen herangeführt werden und Mannomann, was hatte er für einen Spaß daran. Er wusste instinktiv genau, was er zu tun hatte, im Gegensatz zu mir, die ich mich durch die ganze Situation doch etwas verwirrt fühlte. Mat stand rechts neben mir und sah mir fasziniert zu, als sei ich ein Tier, das in einer David-Attenborough-­Doku etwas ganz Außergewöhnliches tut. Die Hebamme knetete mit den Händen meine Brustwarzen, um das Kolostrum herauszustreichen, und dann war da natürlich Oliver, der um meine Brustwarzen herumschnüffelte wie ein streunender Hund um eine Mülltonne. Klein-Oliver, das jüngste Familienmitglied und ein ganz neuer Mensch, machte es sich gemütlich und saugte an meinen Nippeln. Unglaublich. Soviel Action hatten meine Brustwarzen noch nicht erlebt und binnen einer halben Stunde fühlte ich mich taub. Oliver wurde schläfrig und ich dachte mir, ich hätte eine lange, warme Dusche verdient.

Meine Vagina war von der Geburt so taub, dass ich gerade so ins Bad watscheln konnte, wo ich mich auf dem Badewannenstuhl niederließ. Ich drehte den Wasserhahn auf und das Gefühl des warmen Wassers, das meinen Rücken herunterlief, war magisch. Wäre da nicht der Alte-Leute-Stuhl gewesen, auf dem ich saß, die Krankenhauskacheln, die Handläufe und die Leuchtstoffröhren, ich hätte geschworen, dass dieser Baderaum das Potenzial zur Wellnessoase hatte.

Dann schaute ich auf meinen Bauch herunter und hatte meinen ersten (von vielen) „WAS-ZUM-TEUFEL?“-Momenten. Neun Monate lang war er der prallste, sexieste und schönste Teil meines Körpers gewesen, jetzt war er zum Klumpen degeneriert. Er fühlte sich an wie Gelee, war schwabbelig und, offen gesagt, abstoßend.

Ich erinnerte mich daran, wie ich erstmals merkte, dass ich schwanger war, und mich sofort darauf freute, dass mein Bauch, auch bekannt als „meine Problemzone“, endlich aus guten Gründen groß und rund sein würde und ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben nicht würde einziehen müssen. Ich hatte alles an meinem schwangeren Bauch geliebt, die Form, wie er sich anfühlte und natürlich den Inhalt! Einer meiner Lieblings-Zeitvertreibe war es, meinen Bauch unter der Dusche einzuseifen und immer, immer wieder mit meinen Händen sein neues Terrain zu erkunden. Ich hatte meinen Körper nie mehr geliebt als während der Schwangerschaft.

Und jetzt saß ich hier auf dem Badewannenstuhl, mit tellergroßen Brustwarzen, einem geleeartigen Schwabbelbauch und Blut floss aus meiner Vagina. Ich war erschöpft, überwältigt und stand vor der größten Herausforderung meines Lebens. Nichts würde mehr so sein wie vorher.

Die nächsten Tage im Krankenhaus waren ein Nebel von schlafen, stillen und essen. Ich war total verliebt in Oliver – Mutterliebe kann man nicht begreifen, bis man sie erlebt hat, sie ist absolut überwältigend. Auf Olivers Geburtsanzeige ließ ich ein Gedicht von Maureen Hawkins drucken, das es perfekt auf den Punkt bringt: „Ehe du empfangen wurdest, wollte ich dich. Ehe du geboren wurdest, liebte ich dich. Ehe du eine Stunde hier warst, war ich bereit, für dich zu sterben. Dies ist das Wunder des Lebens.“

Es war zauberhaft, Oliver nach Hause zu bringen. Es war so schön, ein Baby in der großen Wiege zu sehen, die seit Monaten in dem leeren Kinderzimmer stand. Wir bekamen schnell eine wirklich gute Routine in Gang, und nach einigen Wochen, die wir zurückgezogen zuhause verbracht hatten, war es Zeit für Mat und mich, ins gesellschaftliche Leben zurückzukehren.

Es war Samstagabend.

Abdeckcreme auf meine dunklen Augenringe – check. Große Oma-Unterhosen, um alles zusammenzuhalten – check. Ollie gestillt, Still-BH mit Einlagen ausstaffiert – check.

Ich kämmte mir die Haare und schlüpfte in ein neues Paar flippiger ­Ballerinas mit Tiermuster darauf. Tiermotive machen mich glücklich und als ich in den Spiegel schaute, dachte ich, dass ich ziemlich gut aussähe für eine frisch gebackene Mutter mit einem sechs Wochen alten Baby.

Wir waren zum Abendessen bei unseren Freunden Viki und Mary eingeladen, die praktischerweise nur zwei Straßen weiter wohnen. Wir sind seit ewigen Zeiten befreundet. Ich bin mit Marys Tochter Kaija zur Schule gegangen, sodass sich Mary und Viki wie alte Freunde der Familie anfühlen. Ihr Zuhause ist von der Sorte, bei der man nie wieder gehen möchte, angefüllt mit Lachen und vergnüglichen Stunden und einer Menge Essen. Ihre lettischen Brötchen mit Speck und Zwiebeln sind wirklich zum Sterben gut. Manchmal staube ich zu Ostern eine Tüte davon ab und verstecke sie vor dem Rest der Familie in der Tiefkühltruhe und esse sie heimlich ganz allein. Schlimm, nicht wahr? Aber ehrlich gesagt – keiner weiß diese Zwiebel-Speckbrötchen so zu würdigen wie ich und deshalb finde ich fast, es ist mein gutes Recht, sie allein zu essen.

Besuche bei Mary und Viki erinnern mich auch immer an unsere griechische Nachbarin Salome, die in Flagstaff Hill gegenüber von meinem Elternhaus wohnte, als ich klein war. Ich kann mich erinnern, wie ich in Salomes Küche saß, die einzigartig und verführerisch nach trautem Heim roch, und griechischen Kaffee trank und türkischen Honig aß. Wegen meiner australischen Mutter und meines britischen Vaters habe ich es immer gemocht, mit Leuten aus anderen Kulturen befreundet zu sein, teils weil sie andere Lebensgeschichten und Lebensstile hatten, aber vor allem wegen des Essens. Wir waren eine „Fleisch-und-drei-Gemüsesorten“-Familie und das machte mich rasend. Ich wollte Knoblauch, Zitronengras, Gewürze und Kräuter, aber das Tollste, was es zu unserem öden Essen manchmal gab, war Tartarsauce zum Fisch. Damit wir uns jetzt nicht falsch verstehen: Ich versuche nicht strategisch, meinem Magen zuliebe, mich mit Leuten anderer ethnischer Herkunft anzufreunden, aber wenn als zusätzlicher Bonus ein gutes Hühnchenkorma mit einer indischen Freundin oder asiatisches eingelegtes ­Gemüse von meinen chinesischen Kumpels herausspringt, sage ich nicht nein.

So schnell bin ich von einer Geschichte abzulenken. Mit Essen klappt das immer. Zurück zu meinem gekämmten Haar und den Ballerinas mit dem Tiermuster.

Wir hatten einen wirklich schönen Abend bei Mary und Viki. Es fühlte sich gut an, in Gesellschaft zu sein und den Stolz über die „Oooohs“ und „Aaaahs“ zu genießen, die unser neues Geschöpf Oliver erregte. Bei so vielen Leuten, die ihn im Arm halten wollten, konnte ich sogar ohne Unterbrechung zu Ende essen. Der Abend neigte sich gegen 21.30 Uhr dem Ende zu und Mat, Oliver und ich traten unseren sehr kurzen Heimweg an.

Wir waren kaum eine Minute gegangen, als ich plötzlich einen enormen Stuhldrang verspürte. Bevor ich meine Kinder bekam, war ich es gewohnt, diesen Drang (ebenso wie das kleine Geschäft) stundenlang einhalten zu können. Aber an diesem Abend kam der Drang urplötzlich und wurde aus dem Nichts unwiderstehlich. Ich drehte mich zu Mat und sagte: „Ich muss dringend aufs Klo.” Er meinte, wir seien ja gleich zu Hause, und bemerkte eindeutig weder meinen flehenden Ton noch den intensiven Blick. „Schatz, ich muss wirklich dringend und groß, und zwar JETZT.” Endlich verstand Mat und fing an, schneller zu gehen. „Oh, verdammt“, japste ich, „im Ernst, ich mache mir gleich in die Hose, Mat. Lauf vor, schließ auf und mach die Alarmanlage aus, damit ich gleich durchrennen kann!“ Und er rannte los und ich hinterher, halb rennend, halb im Seitschritt, jammernd und den Kinderwagen vor mir herschiebend. Ich frage mich immer, was die Nachbarn wohl gedacht haben müssen, die uns zufällig mit unserem neuen Baby im Kinderwagen beobachtet haben sollten. Dachten sie: „Aha, eine junge Familie, die sich samstagabends gesund und aktiv bewegt”? Jedenfalls hätte wohl keiner gedacht: „Schau mal, die Frau dort versucht, ihr Geschäft zurückzuhalten, während der Mann vorrennt, damit sie schnell und reibungslos ins Haus kommen kann.”

Ich schaffte es in unsere Straße, indem ich lief, so schnell ich konnte, während ich daran dachte, dass mein kleines Baby in einem Kinderwagen lag, der nicht für hohe Geschwindigkeiten gedacht war und über Wege rollte, die für einen Neugeborenen mit weichen Fontanellen echte Todesfallen waren. Ich sah mein Haus mit dem perfekt gestrichenen weißen Gartenzaun, gleich waren wir da ... Ich schaffte es durchs Gartentor, durch die Eingangstüre, und – gerade einmal wenige Meter vor der Klotür wurde die Erleichterung, es (beinahe) geschafft zu haben, zu viel, und mitten in der Diele machte ich mir in die Unterhose. Vor meinem Ehemann. Ich schlurfte vorsichtig bis zur Toilette und brachte mich dort wieder in Ordnung. Ich erspare uns die Details, aber sagen wir es so: Sich als Erwachsene in die Hose zu scheißen, ist nicht nur dreckig und ekelhaft, es ist auch niederschmetternd für das Selbstwertgefühl.

Als ich wieder auftauchte, blickte Mat mich mit gesenktem Kopf an und wandte sich dann ab, peinlich berührt, wie ich nur vermuten konnte. Ich war zutiefst und vollkommen beschämt. Mat und ich gehen immer sehr offen miteinander um, ich könnte vor ihm fast alles tun und sagen, ohne zu befürchten, dass sich seine Gefühle für mich änderten. Aber mir vor ihm in die Hose zu machen, war definitiv Neuland für unsere Ehe.

Seit Olivers Geburt war jeder Gedanke daran, ein Objekt von Begehren zu sein oder eigene sexuelle Neigungen zu haben, schon stark ins Hintertreffen geraten. Jetzt, in meinem Zustand vollkommener Scham als Frau meines hinreißenden Ehemannes, fühlte ich mich extrem begehrens-unwert. Der Gedanke, wieder seine Geliebte zu sein, war fast unvorstellbar. Es war, als hätte die Geburt in meinem Kopf einen Schalter ausgeknipst und mit Kot in meiner Unterhose und diesem Ausdruck auf seinem Gesicht würde dieser Schalter nicht so schnell wieder eingeschaltet werden.

Einige Wochen nach diesem Zwischenfall entschied ich, mich aktiv um meinen Körper und meine Fitness zu kümmern und dass es Zeit war, wieder Netball spielen zu gehen. Es schien der perfekte Sport für den Wiedereinstieg zu sein, ich beherrschte ihn und im Sportclub gab es sogar eine Kinderkrippe für eventuelles Babysitten.

Als mein erstes Kind bekam Oliver keine Kinderkrippe von innen zu sehen, bis zwei Jahre später Cruz, mein zweites Baby, geboren wurde. Die meisten Mütter sind beim ersten Kind sehr pedantisch, was Schlafzeiten, die Vermeidung von Keimen und die Verpflegung angeht und ich war da nicht anders. Es ist witzig, wie man umso lockerer wird, je mehr Kinder man hat. Ich erinnere mich, wie meine Freundin Mel lachte, als wir beide schon unser zweites Kind hatten und meinem ein Zahnhilfe-Keks auf den Boden fiel. Ich hob ihn auf, sagte: „Zehn-Sekunden-Regel“ (die bedeutet: wenn das Essen nicht länger als zehn Sekunden im Dreck gelegen hat, sind noch keine Keime dran), und gab dem Kleinen den Keks zurück. Wir dachten an die Zeiten mit unseren Erstgeborenen zurück, als das eine Todsünde gewesen wäre!