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© 2017 für die deutsche Ausgabe: HEEL Verlag GmbH, Königswinter

Verantwortlich für den Inhalt: Heribert Hofner und Hans-Peter Lange (© für den Datenteil)

Bildnachweis: Mercedes-Benz Classic Archives; Jan Strunk; Heribert Hofner; Archiv Heribert Hofner; Hubert Rechmann; Robb Pritchard; Brabus GmbH, Bottrop; Sportservice Lorinser GmbH, Backnang; Stance Works, Costa Mesa CA, USA; Prof. Dr. Mario Darok; Dipl.-Ing. Hans-Peter Lange, Archiv der MBIG e.V.; Marcel Weber; Jan-Henrik Muche

Mit herzlichem Dankeschön an Peter Markworth vom Mercedes-Benz R/C 107 SL-Club Deutschland, Ralf Weber vom MB-Stammtisch Hofheim, an Stefan Commertz sowie an Panagiotis Avramidis von MKB in Winnenden

Lektorat: Jost Neßhöver

Satz und Gestaltung: Daniel Tzur, Bonn

Covergestaltung: A. Mertens, HEEL Verlag

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks, der Wiedergabe in jeder Form und der Übersetzung in andere Sprachen, behält sich der Herausgeber vor. Es ist ohne schriftliche Genehmigung des Verlages nicht erlaubt, das Buch und Teile daraus auf fotomechanischem Weg zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer bzw. mechanischer Systeme zu speichern, systematisch auszuwerten oder zu verbreiten. Ebenso untersagt ist die Erfassung und Nutzung auf Netzwerken, inklusive Internet, oder die Verbreitung des Werkes auf Portalen wie Googlebooks.

Alle Angaben ohne Gewähr, Irrtümer vorbehalten

Printed in Slovenia

ISBN 978-3-95843-422-6

eISBN 978-3-95843-546-9

Heribert Hofner

Mercedes-Benz SL

Die Baureihe 107 – Trendsetter und Dauerbrenner

HEEL

Inhalt

Vorwort

Nimbus SL

Aufbruch in die vierte SL-Generation

„Ein eigenwillig schöner Zweisitzer“

Kurzer Radstand, schräge Lenker

Der 350 SL

Der 450 SL

Der 280 SL

Der 380 SL

Der 500 SL

Der 420 SL

Der 560 SL

Der 300 SL

Die Entstehung der SL-Coupés

Die Triebwerksvarianten

Der SLC im Rallyesport

Motorsportliche Schwanengesänge

Wenn Mainstream nicht behagt

Die 107er heute

Technische Daten

Anhang – Die 107er-Codes

Vorwort

Die im Frühjahr 1971 mit dem 350 SL eingeführte vierte SL-Generation von Mercedes-Benz, die Baureihe R 107, bricht in vielerlei Hinsicht mit den bisher gepflegten SL-Traditionen. Stilistisch nicht homogen, mit einer leicht ans Barocke grenzenden Linienführung und reichlichem, nicht in jedem Aspekt stimmigem Dekor zielt die Formgebung offenkundig ebenso auf das Hauptabsatzgebiet Nordamerika wie der zunächst ausschließlich eingebaute V8-Motor.

Das Zielen auf den transatlantischen Hauptabsatzmarkt erweist sich natürlich als richtig: Bis zu 94 Prozent der vielen verschiedenen Hundertsiebener-Typen werden in den Vereinigten Staaten und in Kanada ausgeliefert. Selten ist es weniger als die Hälfte der Jahresproduktion, die den Nordatlantik westwärts überquert.

Tradition: In historischer Einbettung, deren Typenauswahl sich nicht ohne weiteres erschließt, wird der 350 SL auf einem frühen Werksfoto zwischen dem ruhmreichen SSK (W 06) und dem 107-Vorgänger W 113 mit dem charakteristischen Pagodendach in Szene gesetzt.

Reiseziel Nordamerika: Mit dem vierten SL zielte Mercedes-Benz gleich auf den wichtigsten Exportmarkt.

Mit der Baureihe R 107 verwendet der Hersteller für die Zweisitzer beim Baumustercode erstmals das Kürzel „R“ für „Roadster“. Das ist freilich hauseigene Nomenklatur, denn beim SL hat man es ganz offensichtlich mit luxuriös geprägten Cabriolets zu tun und nicht etwa mit jenen spartanisch ausgelegten Sportflitzern vornehmlich britischer Provenienz, mit denen normalerweise der Begriff Roadster assoziiert wird. Es fehlen schon die klassischen Attribute. Das schwere gefütterte Verdeck und die versenkbaren Fenster – vorzugsweise elektrisch betätigt – sprechen eindeutig eine andere Sprache.

Dennoch: Der 107er-SL löst wieder einmal – zum wievielten Mal eigentlich? – die unendliche und letztlich müßige Sportwagendiskussion aus. Reinhard Seiffert, Chefredakteur von auto motor und sport, hat bei der Pressevorstellung keine Probleme, den 350 SL als Sportwagen zu titulieren. Der Hersteller lässt dagegen in den ersten Prospekten eine geradezu panische Angst erkennen, der 350 SL könne als „harter Sportwagen“ missverstanden werden. Freilich ist er nach der uralten, britisch geprägten und auf dem Kontinent von jeher gerne übernommenen Auslegung des Sportwagenbegriffs keineswegs ein kompromiss­loser Minimalist.

Reise statt Sport: Respektable Fahrleistungen bietet jeder R 107, aber statt Grand Prix heißt es eher Grand Tour. Das Foto zur Markteinführung zeigt einen 350 SL aus der Vorserie zwischen 540 K (W 29), vorn, und 300 SL Flügeltüren-Coupé (W 198).

Aber jene Anachronismen gehören ohnehin längst der märchenhaft verbrämten Welt der Nostalgie an. Umlegbare Windschutzscheiben gibt’s anfangs der Siebziger schon lange nicht mehr, Steckscheiben und Notverdecke sind in die Automobilgeschichte eingegangen. Und bei einem legendären Vorfahren, der im Goldenen Buch der Sportwagengeschichte ganz vorne rangiert, ließ sich das Dach nicht öffnen: Der erste 300 SL hatte bekanntlich Flügeltüren.

Trotz ihres beträchtlichen Gewichts ist den Wagen der vierten SL-Generation eine ausgeprägte Agili­tät nicht abzusprechen – und das macht diese Autos mit ihrer sportiven Akzentuierung so sympathisch. Irgendwie ist der Hundertsiebener am Ende gleichsam zwischen den beiden zitierten Polen angesiedelt.

Der Verfasser hatte im Laufe seiner Auto-Vita mehrfach ausführliche Gelegenheit, mit verschiedenen 107er-SL-Roadstern auf Tour zu gehen – mit acht und mit sechs Zylindern. Zurück blieben durchweg positive Erinnerungen. Speziell ein früher, sehr gut gehender und wohltönender 350 SL mit nach­träglich knackig abgestimmtem Fahrwerk ist im Gedächtnis verankert geblieben.

Show in Amsterdam: Schau­spielerin Sylvia Kristel („Emanuelle“) posiert auf dem Roadster während der Autoausstellung am 18. Februar 1973 in der RAI-Halle (Rijwiel en Automobiel Industrie).

Eine Motorsport-Karriere ist der Baureihe 107 gewiss nicht an der Wiege gesungen worden, aber die als komfortable Tourensportwagen konzipierten Autos besitzen ausgeprägtes Durchhalte- und Durchsetzungsvermögen und können dabei partout auch die Zähne zeigen. Er ist nicht nur auf den Boulevards oder den Spielplätzen der Reichen und Schönen zu Hause, der SL der vierten Generation. Er darf sich im Rückblick – zumindest in Coupé-Gestalt – eines durchaus respektablen Sportlerdaseins erfreuen. Der Hundertsiebener wird ernstgenommen!

Die Baumusterfamilie 107 kann mit einigen für ihre Gattung spezifischen Bestleistungen aufwarten: Die Roadster-Reihe R 107 stellt einen firmen­internen Dauerlauf-Rekord auf und bringt es mit mehr als 18 Produktionsjahren auf die längste Fertigungs­spanne aller Mercedes-Personenwagen gemäß dem üblichen Sprachgebrauch.

In dieser Zeit fließen mehr als 1000 Detailänderungen in die Serie ein. Mit 237.287 Exemplaren stellen die Zweisitzer zu sämtlichen Vorgängern – selbst die populäre „Pagode“ blieb im Fertigungsergebnis knapp unter 50.000 Einheiten – einen deutlichen Abstand her und verkörpern so den ersten Großserien-SL. In wirtschaftlicher Denkweise darf man die hervorragende Amortisation der Presswerkzeuge und weiterer Produktionsmittel, damit verbunden eine Minimierung der Herstellungskosten und schließlich eine Gewinnsicherung gewiss nicht übersehen.

Im Aufwind: Beliebtheitsgrad und Preise steigen ständig, die 107er-Sammlerszene wächst. Der 500 SL ist besonders begehrt.

Der kann auch anders: Mag man sich den SL, hier ein topasbraunes Exemplar, gleich als Golfplatz-Deko vorstellen, erscheint die erfolgreiche Sportlaufbahn abseits feinen Rasens heute fast exotisch (unten): der 450 SLC 5.0 im harten Rallye-Einsatz.

Eine weitere Eigentümlichkeit der 107er besteht darin, dass die Zweisitzer abweichend zur zuvor und später gebräuchlichen Praxis die Basis für das vier- bis fünfsitzige Oberklasse-Coupé durch Verlängerung der Bodengruppe bilden: Im Februar 1972 geht der 350 SLC in Produktion. Die Karriere des insgesamt mit fünf verschiedenen Motorisierungen angebotenen sportlichen Coupés, das im Gegensatz zum SL in internationalen Einsätzen sogar zu sportlichen Ehren gelangt, ist wesentlich kürzer als die des offenen Basistyps. Sie endet im September 1981 nach 62.888 gebauten Wagen.

Während in Deutschland alle jemals gebauten SLC die höheren Weihen des Oldtimer-Status erreicht haben und mit einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Erstzulassung kostensparend H-Kennzeichen-tauglich sind, bleibt den Roadstern aus den allerletzten Baujahren (300 SL, 420 SL, 500 SL und 560 SL) dieser Vorzug noch versagt, ist aber in greifbarer Nähe. In den Genuss dieser Steuervergünstigung kommen die meisten V8-Typen und alle Sechszylinder des Modells 280 SL. Für die Besitzer der jüngeren Modelle ist es trostreich zu wissen, dass für die ab September 1986 serienmäßig mit geregeltem Drei-Wege-Katalysator (G-KAT) ausgerüsteten Fahrzeuge die Schadstoffklasse Euro 1 oder 2 gilt, die zu einer grünen Feinstaubplakette der Kategorie 4 und einem reduzierten Steuersatz berechtigt.

Mit Werksgarantie: Noch heute kann man einen 107er beim Hersteller kaufen – allerdings mit Oldtimer-Status in der Abteilung „Young Classics“.

Auffällig ist, dass sich die Hundertsiebener nur für relativ kurze Zeit im Stadium des einigermaßen preisgünstigen Gebrauchtwagens befinden, ehe wieder ein deutlicher Aufwärtstrend in Richtung Liebhaberpreis einsetzt. Dabei sind natürlich die offenen Zweisitzer im direkten Vergleich teurer als die entsprechenden SL-Coupés. Beim Neupreis war es einst umgekehrt gewesen. Ein Abtauchen ins Halbwelt-Milieu, in den Großstadt-Kiez – wie bei gewissen Konkurrenzmodellen zu beobachten – findet in der Familie R/C 107 kaum statt. Die Solidität der Besitzer gleicht wohl der der Fahr­­zeuge.

Thema Sicherheit: Mercedes-Benz hat früh darauf gesetzt und niemals damit hinterm Berg gehalten.

Obwohl sich der Verfasser seit langer Zeit als schreibender Schrauber an seinen betagten Sternen betätigt und sich ständig im Erfahrungsumfeld sterntragender Liebhaberfahrzeuge bewegt, stellt diese Veröffentlichung keine Kaufberatung im üblichen Sinne dar. Ein derartiger Ratgeber würde den Rahmen des Buches gehörig sprengen, denn zu sagen gäbe es vieles: So sind die 107er typische Produkte der Siebziger – nicht nur im Styling, sondern auch in der ausgeprägten Rostanfälligkeit besonders der frühen Modelle bis etwa Baujahr 1978. Da gilt der Grundsatz der „Gnade der späten Geburt“.

Auch die wenig alterungsbeständigen Elektronik­bauteile der D-Jetronic führen immer wieder zu schierer Verzweiflung der Besitzer. Zudem gibt es nicht selten Zulassungsprobleme mit den vielen Spätheimkehrern aus den USA. Für praktische Fingerzeige sind die recht aktiven Clubs mit ihren kompetenten Referenten zuständig – siehe Anhang. Im Vordergrund stehen in diesem Buch vielmehr die detaillierte Typengeschichte, der Geist jener Automobil-Epoche und die Internationalität des Entwurfs.

- Heribert Hofner, im Sommer 2017

Zeitlos schön: Dieser perfekt restaurierte späte 500 SL ist so begehrenswert wie einst.

Nimbus SL

Zwei Buchstaben stehen für Individualität, für Solidität, für technische Reife und Fertigungsgüte

Die beiden im mächtigen Schatten des Mercedes-Sterns zunächst ohne große Hintergedanken eingeführten Großbuchstaben „SL“ sind es, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Erweiterung des Sportwagen-Begriffs auslösen: vom mehr oder minder kompromisslosen Sportgerät über den ebenso kompakten wie komfortablen Roadster oder den schnellen Sommer-Reisewagen bis hin zum prestigeträchtigen offenen Boulevard-Cruiser mit Allwetter-Qualitäten.

Diese charakterologische Bandbreite umfasst bis zur gegenwärtigen SL-Klasse der Baureihe R 231 acht Modellfamilien – sieben davon serienmäßige, käufliche Automobile – mit deutlich von­einander abweichenden Wesenszügen:

Am Anfang steht der solitäre SL-Urahn des Baumusters W 194 aus dem Jahr1952 – eigentlich ein nicht für Serienfertigung und Verkauf vorgesehener Sport-Prototyp, der Werkseinsätzen bei Langstreckenrennen und schließlich dem Flügeltüren-Coupé (W 198) als konstruktive Basis dient. Mit ihm beginnt die Nomenklatur der beiden Kult-Buchstaben, die ganz unspektakulär für „Sport leicht“ stehen. Beide Attribute – sowohl die Sportlichkeit als auch der Leichtbau – werden in späteren Jahren immer wieder in Frage gestellt. Kein Wunder, denn der Versuch einer Definition des Begriffs „Sportwagen“ ist fast so müßig wie die Suche nach dem utopischen Perpetuum mobile.

Ahnengalerie: Immer wieder bedeuten die magischen Lettern SL (für „Sport“ und für „leicht“) eine neue Variation. Hier im Uhrzeigersinn der legendäre 300 SL bei der Carrera Panamericana 1952, der „Flügeltürer“ im Straßentrimm und das Roadster-Derivat.

Die unterschiedliche Natur der einzelnen SL-Generationen wird beim Einsatz im Motorsport – sei es in privater Hand oder werksseitig – deutlich: Die Erfolge des ursprünglichen 300 SL in beiden Bauformen als Flügeltürer und als Roadster sind unbestritten, sind geradezu legendär geworden und haben in erster Linie das himmelhohe, bis heute durch nichts zu erschütternde Ansehen dieser Autos geprägt.

Der niedliche 190 SL hatte von Haus aus eine andere Rolle jenseits aller Rundkurse und Pisten zu spielen. Noch einmal ganz anders geriet die folgende „Pagode“, zumindest in erster Auflage: Der 230 SL trägt 1963 zu Eugen Böhringers Titelgewinn der Rallye-Europameisterschaft bei. Dass die Linienführung des Pagoden-SL in der Untertürkheimer Chef­etage posthum als „zu feminin“ bezeichnet wird, ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen.

Neue Generationen. Weitere Stationen der SL-Geschichte sind der 190 SL, die „Pagode“, und der auch mit zwölf Zylindern lieferbare R 129 (links von oben) sowie der R 230 (oben), mit dem das Stahl-Klappdach anstelle des traditionellen Textilverdecks eingeführt wird.

Die folgende Baureihe 107 – Gegenstand dieses Bandes – hat mit sportlichem Lorbeer dagegen zunächst wenig zu tun. Erst mit dem Erscheinen der Coupé-Variante ändert sich dieses Bild umso deutlicher. Doch davon später mehr.

Die nächsten beiden SL-Generationen haben sich zu zwar leistungsfähigen, aber doch recht statt­lichen Luxusgeschöpfen entwickelt. Einen Vertreter der gewichtigen Baureihe R 129, die eine Amtszeit von mehr als zwölf Jahren erreichte, wird wohl niemand ernsthaft bei Wettbewerben einsetzen wollen – es sei denn bei Schönheitskonkurrenzen.

Die bis Ende 2011 gebaute Folgegeneration der SL-Klasse R 230 hingegen zeigt nach der zweiten Überarbeitung, die eigentlich über ein Facelifting weit hinausgeht, wieder deutlich mehr Sport­wagen-Gene. Gleichwohl bleiben diese mit ihrem gelungenen Styling beeindruckenden Autos im Grunde mit über zwei Tonnen Lebendgewicht letztlich überaus luxuriös definierte Stahldachcabrios.

Im März 2012 folgt nach zehn Jahren Modelllaufzeit die Roadsterfamilie R 231. Karosserie und Rohbau sind zum ersten Mal fast vollständig aus Aluminium gefertigt. Das Kürzel „SL“ wird wieder etwas wörtlicher genommen. Die Gewichtsreduzierung durch den Vollaluminium-Rohbau zählt zu den heraus­ragenden konstruktiven Merkmalen und bringt gegenüber den Vorgängern ein Minus von rund 140 Kilogramm mit sich. Dennoch verkörpert auch diese Generation eher den gediegenen, komfortbetonten Zweisitzer als den Sportler.

Zitatenschatz: Die siebte Generation der SL-Klasse – rechnet man die parallel gebauten 300 SL und 190 SL als separate Typen – wird von der in Europa Ende März 2012 vorgestellten Baureihe R 231 verkörpert. Das Leistungsspektrum reicht von 306 bis 630 PS.

Der weltweit bestens eingeführte Mythos SL findet so ständig seine Fortsetzung – bis zurück zu unserem Titelhelden. Die ersten drei Baumusterfamilien des Zweisitzers sind jeweils rund acht Jahre lang im Amt. Das ändert sich mit der Baureihe R 107 mit einer Bauzeit von 18 ½ Jahren grundlegend. Diese hausinterne Bestleistung dürfte – zumal in einer Ära reduzierter Modell-Laufzeiten – kaum jemals mehr zu überbieten sein.

In der Typengeschichte von Mercedes-Benz gibt es keine andere reine Personenwagen-Baureihe, die über einen auch nur annähernd so langen Zeitraum gefertigt wurde. Selbst der Vor- und Nachkriegs-Dauerbrenner 170 V (Grundbaumuster W 136) kommt da längst nicht mit: Er erreicht – mit kriegsbedingter Unterbrechung – summa summarum eine Produktionsspanne von etwas mehr als 14 Jahren.

Freilich stellen die im Februar 1979 auf dem Markt eingeführten Geländewagen der G-Klasse in der Disziplin der Fertigungskonstanz eines Grundbaumusters alles andere in den Schatten – nur lässt hier die Vermischung mit dem Nutz- und Militärfahrzeugcharakter keine einwandfreie Zuordnung zur Kategorie der Personenwagen im landläufigen Sinne zu.

Ein weiteres SL-Novum ist die breite Auffächerung in Motorisierungsvarianten mit V8- und Sechs­zylinder-Triebwerken. Vom Roadster gibt es im Laufe der Karriere acht Grundtypen, vom kürzerlebigen Coupé-Stamm SLC sind es deren sechs. Um die Mitte der achtziger Jahre – nach immerhin 14-jähriger Bauzeit – erreicht das Auftragsvolumen der Roadster seinen Höhepunkt. Als 1988 die Einstellung der Produktion mit fast einem Jahr Vorlauf angekündigt wird, kommt es zu einem unerwarteten Nachfrageschub.

Von allen Modellvarianten der Roadster-Baureihe R 107 entstehen 237.287 Exemplare. Dazu kommen die direkten Coupé-Abkömmlinge der Baumusterfamilie C 107, die es – in allerdings „nur“ zehn Jahren – auf insgesamt 62.888 Einheiten bringen. Damit ist über die globale Wertschätzung der Hundertsiebener eigentlich genug gesagt.

Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes-Benz …

In einer französischen Veröffentlichung wird der SL der Reihe 107 mit seiner Ausgewogenheit zwischen Komfort und Sportlichkeit als wahrer Grand-Tourisme-Vertreter im Sinne des verblichenen Facel Vega bezeichnet. Weitaus ausgeprägter ist die Erfolgsgeschichte unter den Stars and Stripes – im doppelten Sinne des Wortes: der ungeheure Verkaufserfolg der Typenreihe in Nordamerika und der SL als dinghafter Ausdruck des Erfolgs und der sozialen Position seiner Besitzer.

Bei der Baureihe 107 ist der Ausfuhranteil in die Vereinigten Staaten – modellspezifisch gesehen – auf 94 Prozent gestiegen. Unter 50 Prozent liegt die modellbezogene Ausfuhrquote nie. Ein Typ der Reihe, der 560 SL, wird gar in erster Linie für den US-Export (und für weitere an den US-Abgasvorschriften orientierte Länder wie Kanada, Australien und Japan) entwickelt und ist in Europa nicht erhältlich. Fast 94 Prozent dieses Modells werden in die USA ausgeführt.

Aus dem Straßenbild der besseren Viertel der US-amerikanischen Großstädte und aus den Bade­orten von Pazifik- und Atlantikküste ist der SL nicht wegzudenken. Auf Grund seiner Häufigkeit auf den Spielplätzen der Highsociety erhält er den Kose­namen „Newport Beach Chevy“.

Vieraugen-Gesicht für USA: Mindestens die Hälfte aller 107er geht mit den üblichen Sicherheits-Extras und -Auswüchsen über den Großen Teich.

Noch Ende 2013 überschreibt die US-amerikanische Oldtimer-Fachzeitschrift Hemmings Motor News ein Feature über den 107er mit den Schlagworten „Timeless design, bulletproof mechanicals and all the cachet of 1980s success“. Na ja – dem für das Mutterland der exzessiven Schusswaffen-Affinität typischen Attribut „kugelsichere Mechanik-Komponenten“ und dem „Gütesiegel des Erfolgs der Achtziger“ kann man auch aus Sicht der Alten Welt zustimmen. Aber „zeitloses Design“?

Der SL scheint geradezu fester Bestandteil des American Dream zu sein. Diesen Symbolgehalt nimmt Janis Joplin 1969 mit ihrem Top-Hit „Oh Lord, won’t you buy me a Mercedes-Benz“ offenbar vorweg. Ihr gebethaftes Flehen wirkt vor dem Hintergrund, dass ihre Freunde alle „nur“ Porsche fahren, ein wenig pikant. Dass sie im richtigen Leben tatsächlich einen Porsche 356 C fährt, tut dem Gehalt des Liedtextes keinen Abbruch.

„Newport Beach Chevy“: Für die Reichen in den USA war der SL schon immer ein Muss.

Dieses Sinnbild wird aber vor allem in einer Vielzahl vorwiegend amerikanischer Spielfilme deutlich. Die­ Hundertsiebener sind allgegenwärtige Movie-Stars, wirken in mindestens 30 Kinoproduktionen und Serien mit und dienen der angemessenen Fortbewegung von Weltklasse-Schauspielern: Walter Matthau in „Charley Varrick“ (1973), Richard Gere in „Ein Mann für gewisse Stunden“ („American Gigolo“, 1980), Julie Andrews in „S.O.B.“ (1981), Eddy Murphy in „Beverly Hills Cop I“ (1984), Clint Eastwood sowohl in „Der Wolf hetzt die Meute“ („Tightrope“, 1984) als auch in „Der Anfänger“ („The Rookie“, 1990), Julia Roberts in „Mystic Pizza“ (1987), Mickey Rourke und Faye Dunaway in „Barfly“ (1987), Robert de Niro und Sharon Stone in „Casino“ (1995) oder Gene Hackman in „Heartbreakers” (2001). Im „Exorzisten“ (1973) spielt der SL der Reihe R 107 genauso mit wie in „Max Dugans Moneten“ („Max Dugan Returns“, 1982), in den Komödien „Ein Fisch namens Wanda“ (1987) und „Straight Talk“ (1992) oder „In den Schuhen meiner Schwester“ („In Her Shoes“, 2005).

Was TV-Serien betrifft, fährt Rick alias Orville Wright in der zwischen 1980 und 1988 auf Hawaii gedrehten Reihe „Magnum P.I.“ so ein Auto, während die Lichtgestalt Bobby Ewing in der Seifenoper „Dallas“ (1978 – 1991) von 1981 bis 1987 mit einem roten 450 SL unterwegs ist. Diese SL-Generation darf natürlich auch in der konkurrierenden Familienserie „Denver Clan“ („Dynasty“, 1981 – 1989) nicht fehlen. Und Jonathan und Jennifer Hart bewegen in den 110 Episoden von „Hart aber herzlich“ („Hart to Hart“, 1979 – 1984) gleich mehrere Wagen dieses Typs. Schließlich fällt auch im Spielfilm „Notting Hill“ mit Julia Roberts und Hugh Grant (1999) ein (zufällig?) am Straßenrand der Londoner City geparkter seltener 450 SLC 5.0 ins Auge des fachkundigen Zuschauers. Hat diese ausgeprägte Movie-Präsenz der 107er mit der ungewöhnlich hohen „Frauenquote“ dieser Baureihe in den USA zu tun? Nach einer zeitgenössischen Pressemitteilung von Mercedes-Benz of North America werden 38 Prozent der in den Vereinigten Staaten abgesetzten R 107 von weiblichen Kunden erworben.

Diesseits von Hollywood schmücken sich viele Prominente in ihrem Privatleben mit dem 107er SL und seiner Coupé-Variante SLC, umgekehrt werden SL und SLC von der V.I.P.-Verkaufsabteilung der Daimler-Benz A.G. auch werbeträchtig mit Berühmtheiten garniert. Größen des Show-Geschäfts wie Dieter Bohlen, Udo Jürgens und Tony Marshall, Sportidole wie Uli Hoeneß oder Marika Kilius und Bühnen- und Kinostars wie Uschi Glas oder Christiane Rücker fahren den SL der fünften Generation.

Und noch einer steigert den Bekanntheitsgrad des Stuttgarter Luxusautomobils: Als der als Hardliner in die Geschichte eingegangene Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, auf der Höhe des Kalten Krieges 1973 zum Staatsbesuch in Deutschland weilt, schenkt ihm Bundeskanzler Willy Brandt zum Abschied einen 107er – keinen Roadster, sondern einen 450 SLC.

Nicht schön, aber nötig: Gesetze in den USA verdarben die schönen Linien der flotten Autos aus dem alten Europa. Die dem Verkehrsministerium DOT (Department of Transport) angegliederte Behörde NHTSA (National Highway Traffic Safety Administration) schrieb ab 1.9.1972 die unschönen Stoßfänger vor, die einen Aufprall von 5 mph (8 km/h) zu absorbieren hatten, ohne Schäden an sicherheitsrelevanten Bauteilen zu hinterlassen.

Der Oberste Apparatschik der Sowjetunion – posthum als Autofan glorifiziert – unternimmt mit dem Coupé eine spontane nächtliche Probefahrt, die prompt mit einer Beule im Blech endet. Da ist der 107er in guter Gesellschaft: Das gleiche Schicksal ist vorher schon einem Rolls-Royce Silver Shadow zuteil geworden. Lag’s an der angeblich nicht vorhandenen Fahrerlaubnis oder am Genuss von zu viel „Wässerchen“?

Der Promi-Status der 107er-SL schlägt sich auch in den Lieferfristen nieder: Die Nachfrage nach dem Roadster ist jahrelang nur stark verzögert zu befriedigen, wobei die Transatlantik-Ausfuhr beim Fertigungsvolumen ganz offensichtlich Vorrang hat.

Einer von vielen: Die Liste der Promis mit eigenem 107er ist lang. Einer von ihnen ist „Bomber“ Gerd Müller, Fußball-Weltmeister von 1974, der hier soeben seinen 450 SLC bei der Mercedes-Benz-Niederlassung München übernommen hat.

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Im Nachhinein wird der Nimbus durch die Korrosionsanfälligkeit der 107er aus den ersten Baujahren bis etwa 1978 einigermaßen getrübt. Schließlich sind aus jener Epoche der frühen siebziger Jahre kaum Autos – welchen Fabrikats auch immer, „Schwedenstahl“-Volvos sind hier aus Erfahrung durchaus und bewusst eingeschlossen – für ihre Rostimmunität bekannt, da die Rostvorsorge bei allen Herstellern noch wenig konsequent betrieben wurde.

Daimler-Benz zeigte in dieser Hinsicht zwar spürbar ernsthafteres Bemühen, aber als Verwandte der „Strich-Acht“-Reihe (W 114/115) waren auch die 107er programmierte Opfer der braunen Pest. Mit Ausnahme einiger spezieller Modelle mit Motorhauben und Kofferraumklappen aus Aluminium bestehen die Karosserien der 107er aus zunächst unbehandeltem Stahlblech. Als anfangs besonders gefährdet gelten die A-Säulen, vordere und hintere Fahrwerksaufhängung, die Innen- und Außenschweller, die Wagenheberaufnahmen, die hinteren Radläufe, der Verdeckkasten und die Scheinwerfertöpfe.

Sic transit gloria mundi: So geht der Glanz der Welt dahin: Die von der Botanik umschlungene SLC-Leiche wurde bei der Autoverwertung Rietz in Duisburg entdeckt.

Der Rostbefall der 107er hielt sich gegenüber der Korrosionsanfälligkeit der Volumenmodelle nur deshalb in noch akzeptablen Grenzen, weil den höherwertigen Autos einerseits im Rahmen der Kundendienste entsprechende planmäßige Vorsorgemaßnahmen zu Teil wurden und sie von ihren Eignern bessere Pflege erhielten, vor allem aber weil sie vorwiegend in der trockeneren, streusalzfreien Saison eingesetzt wurden. Viele konnten gar vom Status des reinen Sommerautos profitieren.

Heute gibt es kaum einen ursprünglich in Mittel­europa ganzjährig eingesetzten 350 SL oder 450 SL, der ohne Schweißarbeiten noch völlig unberührt wäre und vor allem noch mit den Originalschwellern aufträte. Auch frühe 280 SL können noch Rostfraß angesetzt haben. Als ungleich haltbarer haben sich die SL der zweiten 107er Generation ab Modelljahr 1986 erwiesen: 300 SL, 420 SL und 500 SL, dazu die Übersee-Version 560 SL. Sie stellen überdies die (noch) bessere Verarbeitungsqualität unter Beweis.

Aufbruch in die vierte SL-Generation

Die Entstehungsgeschichte der Baumusterfamilie R 107